Frosch, platt

25.08.2016 daHEIM

Das Meer kämmt sich und schiebt sein Wasser in Wellen, deren gischtbedeckte Silouhetten die schneebedeckten Züge des Rila- und Piringebirge nachspielen, ans Ufer.

Das Meer schäumt grün in der Farbe der Wälder, die Bulgarien weitflächig beschatten.

Die Speisekarte im Restaurant Afrodita ist multilingual: bulgarisch, griechisch, englisch, deutsch. Türkisch, die Sprache des nächsten Nachbarn fehlt. Wohl auch die Gäste, die eine weitere Übersetzung der Speisekarte in Betracht ziehen ließen. Stattdessen findet sich in jedem Dorf, selbst wenn nur die Erinnerung an die Toten von seinen einstigen Bewohnern übriggeblieben ist, eine Gedenktafel zu Ehren der Befreiung von der Osmanischen Herrschaft. In Kalofer flattert das Portrait jenes sagenumworbenen Haidukenführers, der die Besatzer vor 300 Jahren listenreich austrickste, in Che Guevara-Manier auf Wimpel gedruckt an jeder Straßenlaterne des nach dem Widerständler benannten Ortes. Noch im Verfall des Städtchens wird der  Revolutionsgeist beschworen: Die letzte Brigade von Aktivistinnen besteht aus alten Frauen, die vor ihren Häusern kehren und mit ihren Besen das Kleinstadtleben aufrechterhalten.

Die lange Liste der deutsch benannten Speisen auf dem Menue des Restaurants Afrodita verraten den Stolz und Erfolg der einstigen Auswanderer. Die, hinter denen die Autotüre mit sattem Mercedes-Klang – dhufff- ins Schloss fällt, sind keine Touristen, sondern Heimaturlauber oder Heimkehrer. Ihre schwarz- oder silbernen Limousinen mit Stuttgarter und Münchner Kennzeichen sind die Trophäen, mit denen sie durch ihr Land fahren. Der Ausdruck in deutscher Sprache auf der Speisekarte bezeugt ihre in der Fremde erworbene Weltläufigkeit. 

Elf Kilometer entfernt von der türkischen Grenze baden die Urlauber im Schwarzen Meer. Sein Wasser ist so grün wie die umliegenden Wälder, deren Bäume das Land bewehren. Hier scheint sogar die Natur einer Regierung zu dienen, die sich in Stellung bringt, gegen alle, die unerwünscht kommen, um ihren Fuß auf europäischen Boden setzen.

Der befahrbare Belag, der vom Zentralbalkan kurvenreich an die Küste führt, ist eine Straße ohne Gegenverkehr. Die Schilder, die das Überholen verbieten, stammen aus einer Zeit, in der noch keine Schnellstraße das Landesinnere mit den Seebädern verband und die Fahrt zu einer Tagessreise machte. Wählt man diese vergessene Route durch die Natur heute, wünscht man sich keine Panne auf dem Weg. Knietiefen Schlaglöcher mit dem Durchmesser eines Kinderplantschbeckens zwingen den Blick auf den Boden - umso erstaunter bleibt man nach Stunden auf Geheiß an einer Waldkreuzung stehen. Der erhobene Blick sucht die undeutsamen Gesichter der Grenzsoldaten ab, die das Auto im Halbkreis umstellen. Sie sprechen bulgarisch und spanisch, ich biete ihnen französisch, italienisch, englisch und russisch an. Auf lauten Zuruf erscheint der Kommandant der Truppe. In seiner blauen Uniform hebt er sich beinahe modisch gegen die schwarze und grüne Kleidung seiner Kollegen ab, die in der Dämmerung mit der Umgebung verschmelzen. Als würde es sich um einen fünfzehnminütigen Spaziergang handeln und nicht eine abenteuerliche Fahrt von noch mindestens vier Stunden, während deren das Auge vor Dickicht kaum Himmel sieht, strahle ich ihn lächelnd an: „Wir fahren ans Meer“. Die Plauderei im Unterholz ist fast freundlich, bis mich seine Aussage, er sei Kroate, irritiert und ich verzweifelt meine Vorstellung nach einer Grenze die Kroatien und Bulgarien trennt, absuche. „Also, ich gehe schwimmen und was machen Sie hier?“. Er zögert für einen Moment, antwortet dann mit dem einen Wort, welches ohne weitere Zusätze auskommt: FRONTEX.

Die Fluchtrichtung hat sich gedreht: Versuchten bis 1989 ungezählte Menschen über Bulgarien in den Westen zu entkommen, so stehen sie heute an der türkischen Küste und blicken in die Gegenrichtung. Wo früher Osten war, beginnt jetzt der Mythos Europa. In 32 Stunden Fahrt übers Meer erreichten 1968 zwei DDR-Bürger im Faltboot vom bulgarischen Strand aus die Türkei. 2012 starben 37 Afghanen, Syrer und Turkmenen beim Versuch von Istanbul aus über See nach Rumänien zu gelangen. Der Fliehende, der den Weg über Land wählt, wird sich in den Wurzeln, die sich wie holzgewordene Haarsträhnen verrückt gewordener alter Frauen über den Boden ausbreiten, verheddern und an den dornigen Blumen  die Haut aufschürfen. Wer in seiner Verzweiflung ins Schlauchboot steigt, wird ertrinken.

Als wir spät unser Ziel erreichen, ist das gebuchte Hotelzimmer vergeben. Wir bekommen stattdessen eine Ferienwohnung, in der mindestens vier Personen schlafen könnten. Auf meine Frage, ob uns das Apartment alleine zur Verfügung stehen würde, antwortet der Hotelangestellte geflissentlich, fast schon empört „Wir sind hier kein Hostel für... wie heißen die noch mal... die aus Syrien... „, und endet mit kleinem Triumph in der Stimme: „Wir sind hier kein Hostel für Flüchtlinge!“.

p.s: Heute, am Abend des zweiten Tages in Sinemorec habe ich einen Frosch gefunden, dünn wie ein Papier.
Er hatte den Transit von einer Strassenseite zur anderen gewagt.
Er ist gescheitert.

 

KUNSTASYL photo caveng

200 Kilometer bis Istanbul

KUNSTASYL photo caveng

Ferienwohnung Afrodita - kein Hostel für Flüchtlinge

KUNSTASYL photo caveng

Sommergäste in Sinemorec

KUNSTASYL photo caveng

Distel

KUNSTASYL photo caveng

Das Meer bei Sinemorec

KUNSTASYL photo caveng

Frosch, platt